Mein Roman "Leon, Don Carlos und Ich"
Wenn sich die Bühne in ihrem unwiderstehlichen Glanz präsentiert, wir dem rasanten Spiel der Schauspieler folgen, bleibt uns verborgen, dass die Arbeit an dem Stück die Darsteller vor große Herausforderungen stellt, so auch den Protagonisten Leon, der als junger Schauspieler mit seiner ersten Hauptrolle, neu gewonnenen Freunden und einer bunten Schar von Kollegen die weiten Gefilde der Schauspielkunst von der ersten Probe bis zur Premiere durchlebt. Vorerst muss er seine unbändige Spielfreude in brauchbare Bahnen lenken und sich in kleineren Aufgaben beweisen. Wir erfahren, wie sich unser Held in den Höhen und Tiefen der Theaterwelt zurechtfinden muss, wie er sich aus seinen eigenen Bedrängnissen herauswindet und wie er mit der Arbeit an seiner Theaterfigur über sich hinaus wächst.
Eine besondere Freundschaft verbindet ihn mit dem smarten Siegertyp, Schauspieler und Frauenheld Max und dem sehr talentierten schottischen Straßenmusiker Ben. Als Regieassistent wird Leon Zeuge, wie sich die Leidenschaft der zu spielenden Figuren auf Max und Ben persönlich übertragen und sie eine intime Beziehung miteinander eingehen.
Max ist es, der Leon in seiner großen Rolle als „Don Carlos“ mit der Rolle als Marquis von Posa zur Seite steht und ihn als Freund durch das Labyrinth der Theaterwelt begleitet.
Unter dem Feuer starker Begegnungen sowie unter der eisernen Hand seines Regisseurs Alexander Brückner, wächst Leon langsam in seine Figur hinein und hat am Ende Mühe, sich selbst wiederzufinden.
Der Roman "Leon, Don Carlos und Ich" ist als E-Book und als Taschenbuch überall online und in allen Buchhandlungen erhältlich.
Leseprobe:
Uwe Zerbe
Leon, Don Carlos und Ich
Ein Theaterroman
Leon und Ich
In meinen Kindheitsträumen flog ich auf dem Mondschein durch die Welt, und wenn mich der Groll meines Vaters zu erdrücken drohte, besiegte ich ihn wie Lanzelot den Drachen. Den Kampf mit den Unbilden der Erwachsenen konnte ich nur in meiner Traumwelt führen und nahm mir vor, nie so zu werden wie sie.Später, als mich die Zwänge eines unerwünschten Berufes einengten und ich nach Auswegen suchte, flog ich, von meinen Wünschen getragen, in die Arme der Theaterwelt, die der geliebten Traumwelt meiner Kindheit schon immer so nahestand. Ich wurde Schauspieler.
Nichts ist besser geeignet als das Theater, um Träume zum Leben zu erwecken. Sie sind dort so irreal und doch so wirklich, zwingen zum Nachdenken, sie erheitern oder erzürnen, verarbeiten Ungerechtigkeiten und kehren das Unterste zuoberst. Sie erzählen von verschämt verborgenen oder von verheimlichten Ereignissen, die im alltäglichen Leben verschlossen bleiben, aber auf der Bühne in aller Öffentlichkeit entlarvt und verarbeitet werden. Ernst oder heiter, jedenfalls immer dramatisch.
Der Weg in meine Vergangenheit bringt mich mehr und mehr in Bewegung. Ich versuche, aus dem Ozean meiner Erkenntnisse die vielen Erinnerungen in einer autobiografischen Geschichte zu bündeln. Ich sehe, wie Bilder meines Schaffens aus dem Nebel emporsteigen, spiele sie neu durch und entdecke dabei andere Zusammenhänge, forme Charaktere nach meinem Ermessen und mache sie zu Helden, zu Deppen oder zu charakterfesten und unumstößlichen Persönlichkeiten. Daraus entwickeln sich neue Situationen. Figuren entstehen aus den Eigenschaften erlebter Personen, die ich geschätzt, geliebt oder auch verachtet habe. Sie lassen mich an ihrer Entstehung teilhaben, toben zwischen Pubertät und Midlife-Crisis, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Es tauchen Orte auf, die schon meinem Gedächtnis längst entschwunden waren. Orte, die sich in meiner Fantasie jetzt neuformieren, sich zu Handlungsorten zusammenfügen, aber keinem geografisch bestimmten Ort entsprechen.
Aus diesen Erinnerungen und Beobachtungen erwächst der Protagonist meiner Geschichte, eine Figur, in der ich mich mit vielen erlebten oder ersehnten Begegnungen wiederfinde. Ich nenne ihn Leon. Er stellt sich mir in seiner offenen und unbeschwerten Art entgegen. Ein inniges, aber turbulentes Spiel beginnt zwischen seiner und meiner Welt, ein Geben und Nehmen. Mit ihm erlebe ich, was war, und sehe, was hätte sein können. Leon ermöglicht es mir, die bewegenden Begegnungen mit Freunden und Kollegen noch einmal zu erleben. Ich sehe, wie sie in seine Entwicklung zum Schauspieler eingreifen, sehe, wie er über sich hinauswächst, wie das Theater sein Leben formt. Ich erlebe die Freuden und Leiden, die Höhen und Abgründe Leons bei der Erarbeitung einer Rolle. Vor meinen Augen entsteht ein Held. Ein Held, wie auch ich es gern gewesen wäre.
Während er sich in mir immer mehr Raum verschafft, tauche ich noch einmal in die weiten Gefilde der Schauspielkunst ein und dringe mehr denn je in die Tiefe meiner Seele vor.
Ich schaue in den Spiegel und frage mich, ob ich in der Lage sein werde, meinen Figuren das zu geben, was sie benötigen, um in meinem Roman zu bestehen. Ich sehe betroffen, wie Leon in meinem Spiegelbild Gestalt annimmt und zu mir spricht: „Hoffentlich wirst du nicht bedauern, dass du mich erfunden hast.“ Ich erwidere scheinbar gut gelaunt: „Ich arbeite daran.“
„Wir werden es nicht einfach miteinander haben“, sagt er voller Tatendrang.
Mir fällt nichts Besseres ein als: „Das Leben ist nun mal so.“
Er lacht, winkt mir zu und sagt: „Lass uns anfangen“ und verschwindet in meinem Roman.
Das Haus am Rande des Stadtparks
Seit zwei Tagen weiß Leon, dass er mit der Rolle des Carlos besetzt ist. Leon Brandt, sein Name strahlte ihm von der obersten Reihe der Besetzungsliste entgegen. Wird Zeit, dachte er und grinste euphorisch in den Schaukasten. Die Luft, die er atmete, erschien ihm sogleich frischer und würziger. In seinem Freudentaumel nahm der so triste Bühneneingangsbereich mit der grauen Pförtnerloge gleich fürstliche Formen an.
Heute, am späten Vormittag, verlässt er die Wohnung, zieht die Wollmütze über sein struppiges blondes Haar, legt die Kopfhörer um und wirft den Rucksack über die Schulter. Darin Smartphone, Zeichenblock, Zeichenkreide und natürlich das Rollenbuch Don Carlos, der Infant von Spanien. Seine angespannten Nerven bewirkten Freudensprünge. Große schauspielerische Mittel werden bei dieser Arbeit von ihm erwartet, Ausdauer und Durchsetzungskraft sind gefragt. Leon ist fest entschlossen, allen zu zeigen, was in ihm steckt.
Gestern Abend ließ er in seiner WG gleich eine Flasche guten Rotweins springen. Mit Antipasti und Kerzenlicht wurde es gemütlich in der geräumigen Wohnküche der Dreier-WG am Rande des Stadtparks. Das gemeinsame Projekt von Friedrich Schillers Don Carlos verbindet sie, Maike, Frederik und Leon. Maike erarbeitet die Dramaturgie und Frederik das Bühnenbild. Beide sind nicht wesentlich älter als er. Sogleich diskutierten sie über das Stück und über Leons Rolle. Er wird also den Sohn des mächtigsten Herrschers Europas und Enkel des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation spielen. Ein leichtes Unbehagen schlich aus der Magengrube in sein Bewusstsein. Maike und Frederik sprachen darüber, dass dieser historische Carlos ein sehr kurzes Leben gehabt hatte und dieses kurze Leben ganz und gar nicht einfach gewesen war. Sie schauten sich alte Bilder an und stellten fest, dass Carlos‘ Vater und Großvater nicht gerade sympathische Erscheinungen waren. Mit ihren langen Köpfen und roten Haaren, mit den hervorquellenden Augen, dem kräftigen Unterbiss und der vorgestreckten Unterlippe des Habsburger Herrschergeschlechts hätten sie Leon schon beim bloßen Anblick in Stillschweigen versetzt. Dazu erfuhr er, dass sie obendrein noch mächtige Säbelrassler waren, von Machtstreben und Skrupellosigkeit geprägt. In Schillers Stück haben sie die Niederlande beim Wickel. Das bringt die Figuren um Don Carlos so richtig auf Trab. Da verwundert es nicht, dass Leon letzte Nacht böse Träume hatte.
Freude, aber auch Bedenken, Zweifel und Erfolgszwang geistern durch seinen Kopf, als er auf dem Weg ist, das gutbürgerliche Wohnhaus zu verlassen. Seit über einem Jahr hat er hier im dritten Geschoss sein Zuhause gefunden. Das Gute an diesem Haus wurde allerdings schon von der Zeit aufgebraucht, die abgetretenen, ächzenden Treppenstufen erinnern mit jedem Schritt an das alte Bürgerliche.
Stimmengewirr hinter den Wohnungstüren begleitet ihn bis zur Haustür. Schimpfen, Stöhnen, ein Hund bellt, zwei Kinder krachen gegen die Wohnungstür. Ein in die Jahre gekommener Nachbar im 1. Stock, allein und neugierig, verwickelt ihn manchmal in ein Gespräch. Heute schaut er geräuschvoll durch den Türspion. Die drei aus der WG sind ihm suspekt, sind vom Theater, da ist Achtsamkeit geboten.
Kraftvoll stemmt Leon die Schulter gegen die eichene Haustür, hält seinen Kopf in den Wind und lässt seine spannungsgeladenen Gedanken mit dem stürmisch wirbelnden Herbstlaub davontragen. Der Sommer liegt in den letzten Zügen. Der Herbst setzt erste Zeichen, malt die Blätter der Bäume in seinen Farben und bringt Bewegung in den müden Altweibersommer. Am Rande des Hofes steht ein alter Laubbaum, der seine mächtige Krone gegen den Wind stemmt. Er hat etwas Vertrautes, weckt in Leon Erinnerungen an sein früheres Zuhause. Sein Großvater kommunizierte mit den Bäumen, redete mit ihren rauschenden und säuselnden Blättern, so als wären sie einzigartige Wesen. Mit der stattlichen Linde in der Mitte seines Gartens sprach er gern und Leon hörte ihm zu. Sie war so wie der Baum hier im Hof seines neuen Zuhauses. „Mit ihren tiefen Wurzeln kann sie den Stürmen des Lebens trotzen“, pflegte sein Großvater zu sagen und dann wünschte sich Leon ebenso tiefe, feste Wurzeln. Er muss jetzt darüber lächeln. Sein Großvater malte die Linde und er bewunderte ihn. Die groben Farbstriche, mit denen er über die Leinwand fuhr, gaben dem Stamm seine reale, ganz bestimmte und einzigartige Gestalt. „Wenn du ihm zuhören könntest, würde er dir erzählen, wie das Leben geht. Hinter dem verschlungenen Geäst verbirgt sich eine geheimnisvolle Welt aus vielen Jahrhunderten“, erklärte sein Großvater und Leon spürte, wie sich das Astwerk mit jedem Pinselstrich um seinen Körper wand. „Du musst dich mit ihm zusammentun, ein Teil von ihm werden, seine Geschichte erzählen. Wenn du das machst, wirst du auch andere mit deiner Kunst berühren.“
Leon verbrachte viel Zeit mit seinem Großvater. Er wollte ebenso sein, wollte auch so malen. Weil er ihn ständig mit Fragen nervte, schenkte ihm sein Großvater eines Tages ein Buch mit vielen Bildern über die Malerei und das Leben des Malers Claude Monet. Es steht jetzt neben den Theaterbüchern auf dem Bord über seinem Bett. Die Leidenschaft seines Großvaters für die Kunst hatte sich auf ihn übertragen. Wenn er anfangs auch nicht ganz begriff, worum es ging, nicht gleich alles einordnen konnte, brachten ihn die vertraulichen Gespräche und gemeinsamen Beobachtungen auf seinen jetzigen Weg. Und dieser Leon eilt jetzt wachen Schrittes durch den Stadtpark und möchte hier am Theater tiefe und feste Wurzeln in das Erdreich des Lebens graben. Er wird dem Carlos seine Gestalt geben, ihm seine Geschichte aufdrängen und hoffentlich die anderen damit berühren.
Dahinten, ganz am Ende des Parks, umschlossen von Baumgruppen und Gebüsch, erhebt sich ein stattliches Gebäude aus der Gründerzeit. Wie aus dem Boden gewachsen schaut es über die Baumwipfel: das Theater, sein Theater. Die Wände strahlen in lichtem Ocker, der Stuck und die Einrahmungen der Fenster sind abgesetzt in hellem Beige. Steinputten schmücken den Bereich rechts und links der Fenster und des Eingangsportals. Vor einem Jahr, in den ersten Tagen seines Engagements, ging er meist zwei-, dreimal um das Haus herum, bevor er es betrat. Nicht nur aus Achtung vor dem imposanten Bau. Er konnte es einfach nicht fassen, dass er es geschafft hatte. Ein turbulentes Jahr lag jetzt hinter ihm, der Weg bis hierher war nicht einfach.
Schon bevor alles begann, war Leon in seinem Elternhaus abgestempelt als eigensinniger Querkopf. Mit seinem unangemessenen Berufswunsch rüttelte er am mühselig erschaffenen Sockel der Lebensgrundlage seines Vaters, der nicht gerade auf festem Boden stand. Vater und Bruder taten seine Offenbarung als eine seiner üblichen Fantasien ab, warfen ihm vor, er würde sich in Lebensbereiche begeben, die keiner mehr überschauen kann. Für sie entsprangen Schauspieler einer imaginären Kinowelt und waren nicht greifbar. So einer wie er könne unmöglich zu dieser Kategorie gehören. „Du wirst nie ein Schauspieler werden“, schimpften sie und waren auch gleich bereit, es zu begründen. Richtige Schauspieler müssen von Glanz und Größe umgeben sein, müssen das R auf der Zunge rollen.“ Seitdem rollte sein Bruder, wenn sie darüber sprachen, dieses R und sah ihn dabei süffisant grinsend an. Zur verschreckten Mutter gewandt, verteidigte der Vater seine Ansichten mit den Worten: „Mit dieser brotlosen Kunst wird er der Familie konstant auf der Tasche liegen und zu einer unzumutbaren finanziellen Belastung werden.“ Sein Bruder nickte ihm hämisch grinsend zu, rang wie üblich als der Erstgeborene um die Vormachtstellung und machte abfällige Bemerkungen. Zu mehr als dem dritten Pagen von links würde er es ohnehin nicht bringen. Leons Verteidigungsversuche winkte der Vater mit der üblichen Geste ab, hieß ihn zu schweigen und sagte nur: „Kommt sowieso nichts Gescheites dabei heraus.“ Damals lag es Leon nicht geschickt mit Worten umzugehen, schon gar nicht seinem Vater gegenüber, also ließ er das reden und handelte. Er brach die Beziehung zu seiner Familie ab. Ein wenig litt Leon unter dem Entzug seiner familiären Bindung, aber das Studium an der Schauspielschule wie auch das Engagement am Theater brachten ihm die ersehnten Freudenschauer. Das mit der Familie würde sich schon wieder einrenken. Er nickt besorgt und schiebt die schlechten Erinnerungen beiseite. Auf dem Weg durch den Stadtpark bestimmt jetzt das Buch in seiner Tasche den Fortlauf seines Denkens. Er hat es gelesen, etwas über seine Rolle erfahren und wieder gelesen, war dann hinübergedämmert und in seinem Zimmer eingeschlafen. Im Traum erschienen ihm Schillers Figuren, verschmolzen zu einer riesigen, tobenden Wolkenmasse. Tief hängende schwarzblaue Wolken standen den schnell umhertreibenden, helleren bedrohlich gegenüber, türmten sich weit in die Atmosphäre, umhüllten ihn mit ihrem spannungsgeladenen Kampfgetümmel. Darüber sah er das Himmelsgewölbe in einem zarten, unschuldigen Blau. Ein alles überspannendes Dach, unter dessen Obhut das Leben gut behütet und geschützt sein Dasein fristet.
Jetzt schaut Leon den dahinfliegenden Wolken hinterher. Sie erinnern an den Traum, schaffen in ihm lustvolle Vergleiche mit dem Stürmen und Drängen in Schillers Drama. Dazu das Grollen, Donnern und Blitzen in der Ferne. Es klingt, als wollte sich das eine dem anderen nicht kampflos ergeben. Leon spürt, wie sich sein Carlos in ihm einzurichten beginnt.
Anfänge
„Wer hoch hinauswill, sollte ganz unten anfangen.“ Das war die tiefe Überzeugung des Oberspielleiters Alexander Brückner und seines Intendanten Bernhard Hofweiler. Folglich wiesen sie Leon die Rolle eines reitenden Boten zu. Eine kurze, wenn nicht sogar winzige Rolle. Beide meinten, dass ein zurückhaltender Typ wie Leon es auf diese Weise gründlicher lernen könne, mit dem Theatergeschehen umzugehen. So erwerbe er leichter die Fähigkeit, sich in größeren Rollen zu behaupten. Auch wenn Leon die Besetzung nicht so stark fand, so hatte er jedenfalls viele starke Begegnungen, die er zu nutzen wusste. Er sammelte Erfahrungen und lernte, mit den Kollegen umzugehen. „Kleine Rollen sind undankbar“, sagten sie mitleidig, lächelten und erinnerten an ihre eigenen Anfänge. Statt dem dramaturgischen Zweck zu dienen, neigten auch sie dazu, Auftritte mit allen möglichen naturalistischen und sozialen Gesten zu füllen, wollten mit übertriebenen Darstellungen eine vermeintlich stärkere Wirkung erzeugen, letztlich mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken. Leute, die alles richtig machen, sind dem Theaterensemble ohnehin ein Gräuel. Besonders dann, wenn sie gerade ihr erstes Engagement antreten. Leon, der erst einmal alles falsch machte, aber aufmerksam zuhören konnte und nichts Übel nahm, war hier genau richtig. Als klassischen Einstieg servierte er dem Ensemble mit großem Eifer aus der Tiefe seiner selbst den reitenden Boten in dem Stück Der zerbrochene Krug von Heinrich von Kleist. Er gab einen vom langen Ritt leicht gebeutelten Mann, bei dem man noch das Pferd zwischen den Beinen zu sehen glaubte. Er war der Bedienstete des Gerichtsrates Walther, der eben jenen beim Dorfrichter Adam zur Revision ankündigen sollte. Von Dreck besudelt, die Haut zerschunden, die Kleider zerfetzt, verkündete er aufgebracht, dass der Gerichtsrat mit samt der Kutsche im Hohlweg umgeworfen, dass die Deichsel gebrochen und der Schmied bestellt sei. Regisseur Alexander Brückner musste über Leons Bemühen schmunzeln. Mit euphorisch gesteigertem Körpereinsatz flog Leon fast über das Gerichtsgeländer, dem Gerichtsschreiber Licht in die Arme und sprengte den noch im Aufbau begriffenen szenischen Ablauf. Dabei lenkte er die Aufmerksamkeit auf all seine schauspielerischen Gebrechen und besonders auf die großzügig bis über den Schritt aufgerissene Hose. Dieser alles vereinnahmende aufwendige Auftritt machte die dort agierenden Kollegen bei weitem betroffener als die überbrachte Nachricht des von ihm gespielten Boten.
Alexander Brückner ließ sich von Leons Wucht nicht beeindrucken und meinte gelassen, er müsse nicht alles überstrahlen wollen, sondern sollte sich bemühen, ein Teil des Ganzen zu werden. „Wenn du so viel an dein äußerliches Rumgetue denkst, fühlst du ja von deinem Inneren überhaupt nichts mehr. „Bei mir entsteht der Eindruck, als sei der Teufel hinter dir her, als wolle er dir an die Gurgel oder sonst wohin fassen“, wobei Brückner auf Leons aufgeschlitzte Hose deutete. „Es sieht so aus, als sei der Bedienstete im Hohlweg niedergerissen, ausgezogen und zu sexuellen Handlungen genötigt worden.“ Brückner fand alles sehr amüsant und rief: „Das würde dem Stück mal eine neue Sichtweise, dem allgemeinen Stückablauf eine nicht beabsichtigte Wende geben. Auch würde es von den sexuellen Nötigungen des Adam der Eve gegenüber, also vom eigentlichen Geschehen ablenken und dem jungen hormonstrotzenden Bediensteten in dieser Angelegenheit den Vorrang verschaffen. Durchaus interessant, aber nicht gewollt.“ Auch wenn die Figur, wie Leon sie gerade darbot, weniger den Fortlauf des Geschehens unterstützte, sie sich beinahe verselbstständigte, also kein Rad im Getriebe des Ganzen bildete, war Brückner voller Freude über Leons Enthusiasmus.
Leon fühlte sich weder von den hämischen Blicken seiner Kollegen noch von dem Regisseur gemaßregelt. Hinter seinem stürmischen, emotionalen Auftritt stand nur der Drang nach schauspielerischem Aufbegehren. Von der Kritik des Regisseurs motiviert, begann er gelassen und souverän die Worte zu setzen. Nach wie vor, wenn auch mit mehr Bedacht, stürzte er mit dem entsprechenden Schwung in die laufende Szene und gab dem delikaten, aber recht heiklen Geschwätz zwischen dem Schreiberling Licht und dem Dorfrichter Adam eine noch heiklere, dramatischere Wende. Jetzt waren es nicht nur die Worte, die Gesten oder sein körperlicher Einsatz, die ihn zum Sprechen bewegten, sondern das Spiel zwischen den Worten.
„Ja, du musst nichts Überirdisches tun“, rief Alexander Brückner, „vielleicht aus Angst, nicht gesehen zu werden. Du musst es machen wie im Leben, nur besser, genauer. Auf der Bühne wollen wir nichts zufällig entstehen lassen. Du als Bediensteter kündigst nicht nur den Gerichtsrat Walther an, du kündigst auch den dramatischen Höhepunkt des Stückes an. Der Auftritt des Gerichtsrates wird dem Adam schließlich zum Verhängnis. Also halte dich mit äußerlichen Mätzchen zurück, besinn dich auf die große Wirkung deiner Erscheinung.“
‚Na gut‘, dachte Leon, ließ das Pferd draußen, hielt sich mit der überschwänglichen Spielweise zurück. Seine Probenkleider, kaum die Blöße bedeckend, hingen nach wie vor an ihm herab. Schließlich habe er den Gerichtsrat samt der Kutsche aus dem Schlamm gezogen, verteidigte er sein Probenangebot. Sein blonder, struppiger Haarschopf, vom Regen nass, war kaum vom Hut bedeckt. Die zerschlissenen offenen Beinkleider, so Alexander Brückner, müsse er so präsentieren wie die jungen Leute heute ihre Jeans im Destroyed-Look. Dabei schaute Alexander Brückner mit zweifelhaften Blicken auf die zerrissene, enge Jeans des im Zuschauerraum rumhängenden Schauspielers Winfried.
Winfried, ein in die Jahre gekommener, aber recht drahtiger Schauspieler, spielte den Gerichtsrat Walther. Winfried war in Leon verknallt und wollte ihn glücklich sehen. Er hatte gelegentlich auch schon Annäherungsversuche gemacht unter dem Vorwand, ihm zu helfen, aber jedes Mal beteuert, nichts von ihm zu wollen. Angesichts des Geschehens auf der Bühne konnte er sich auch jetzt nicht zurückhalten, seinen Senf beizutragen und rief laut, den Regisseur übertönend: „Der Bedienstete muss so tun, als wäre er gerade einem Cadillac entstiegen. In der feinsten Livree dort stehend, muss er als Sprecher seiner Obrigkeit dem Bauernpöbel umwälzende Neuigkeiten verkünden.“
Leon bedacht, es jedem recht zu machen, versuchte, um Haltung ringend und die Kleiderfetzen ordnend, den Text stark gestikulierend an den Mann zu bringen.
„Das ist zu viel des Guten“, rief Alexander Brückner dazwischen, „es kommt einer toten Theater-Else gleich, die den Ruf hat, den Hauptagierenden den Rang abzulaufen. Die Zuschauer sind dann nur damit beschäftigt, durch die Lücken seiner Hosenrisse einen Blick auf die Ausmaße seiner zu verbergenden Teile zu erhaschen. Damit kann er auf der Love-Parade seine Anhänger finden, doch hier ist weniger mehr.“
Leon fragte, indem er besorgt in die zu groß gewordenen Lücken seiner zerrissenen Kleider schaute: „Mit den Teilen meinen Sie meine Hose oder was?“ Das nun wieder zu hellem Gelächter anregte. Es war aber kein Gelächter schlechthin, es war wohlwollend und voller Zuneigung seiner Kollegen.
Winfried setzte sich sogar für Leon mit einer kleinen Protestbekundung ein. Er meinte, es solle hier nicht darum gehen, Teile zu sehen, sondern sie zu erahnen. Das wäre doch viel erotischer. Alexander wies Winfried an, den Mund zu halten und den Zuschauerraum zu verlassen. Was Winfried dann auch tat. Im Abgang beteuerte er aber, dass er sich nach der Probe unbedingt gleich mal mit Leon zu einer Auswertung in der Kantine treffen müsse.
Alexander Brückner unterbrach die Probe bis zum Heranschaffen neuer Beinkleider. Es gab viel Aufregung um Leons winzige Szene. Schauspieler mit größeren Auftritten müssten sich schon mehr ins Zeug legen, um für einen derart interessanten Gesprächsstoff im Hause zu sorgen.
Den weiteren Verlauf der Szene verfolgte Leon vom Zuschauerraum aus. Das tat er schon, um Winfrieds Einladung zu umgehen. Er lehnte sich genüsslich in die Polster der Sitze und ließ das Spiel seiner Kollegen an sich vorüberziehen. Sein besonderes Interesse erweckte die Schauspielerin Beatrice als Eve. Sie überraschte Leon mit einer besonders liebenswerten Art im Gedränge mit ihrem Liebhaber Ruprecht und ihrer Mutter Marthe. Ihr rotblondes Haar war zu einem Zopf gebunden. Die mit wenigen Sommersprossen besprenkelte Haut verlieh ihrer Rolle leicht herbe Gesichtszüge. Haltung, Wortwahl und Sprachgestus verwiesen auf eine Person, die aus dem Ländlichen kam. Wobei zu bedenken ist, dass das Stück anno 1685 in einer Gerichtsstube des Dorfes Husum bei Utrecht in den Niederlanden spielt und Beatrice mit dementsprechenden Gestaltungsmerkmalen des Kleist’schen Textes umgehen musste. Sie spielte das mit ihrem speziellen, beim Ensemble berüchtigten Temperament, trat konsequent und fordernd auf, war gänzlich mit Körper, Geist und Seele der Figur verbunden. Auf sie hatte der Dorfrichter Adam ein Auge geworfen. Der wurde von Theo Körner dargestellt und war im Gegensatz zu der zierlichen Eve von mächtiger Statur. Theo ist Schauspieler der ersten Riege des Hauses und verheiratet mit Eleonore, die die Rolle der Marthe, der Mutter Eves verkörperte. Adam, von der Idee besessen, mit Eve eine Liebesnacht zu haben, schleicht zur Kammer Eves und will sie mit dem Angebot verführen, ihren Verlobten Ruprecht vom gefährlichen Militärdienst freistellen zu lassen. Skrupellos lügt er das aus dem Hals heraus. Doch Eve wehrt ihn lautstark ab. Beunruhigt eilen Mutter Marthe und ihr wütender Verlobter Ruprecht herbei. Sie durchbrechen die Tür. Das Dilemma nimmt seinen Lauf. Adam wird ertappt, kann aber im Schutze der Dunkelheit, wenn auch schwer angeschlagen, unerkannt durch das Fenster über das Rosenspalier entkommen.
Leon hatte Bedenken, als er sich das nächtliche Treiben in Eves Kammer mit dem dicken Theo vorstellte. Dass bei diesem Gerangel das Corpus Delikti, besagter Krug, zu Bruch gehen musste, war klar. Wie aber der beleibte Herr aus dem Fenster und am Rosenspalier unbeschadet herunterkommen konnte, warf schon einige Fragen auf. Dass er sich dabei eine klaffende Wunde zuzog und den Verlust seiner Perücke beklagen musste, sprach für einen lebensbedrohlichen Abgang aus dem Fenster. Wie auch immer, der Morgen darauf war nicht der beste. Der Fall wird vor Gericht gebracht.
Leon konstatierte: ‚Sehr amüsant, Dorfrichter Adam soll in der Verhandlung über ein Vergehen Recht sprechen, das er selbst begangen hat. Er ist Täter und Richter zugleich, versucht aber diesen Umstand zu verschleiern. Mal sehen, was sich der dicke Theo Körner in der Rolle des Adam einfallen lässt und wie er sich aus der schlüpfrig heiklen Situation herauswindet.‘
Als Leon den Schauspieler Max in der Rolle des Ruprechts auf der Bühne agieren sah, bemerkte er, dass dessen smarte, elegante Erscheinung dieser bäurischen, ruppigen Rollenfigur so gar nicht entsprach. Jedoch begeisterte ihn seine Arbeitsweise und so schloss Leon ihn gleich in sein Herz.
Max suchte emsig nach Mitteln, um der Rolle zu entsprechen. Dabei hatte er alle Hände voll zu tun, um den Angeboten seiner Partnerin Beatrice gerecht zu werden. Anfangs noch unbeholfen suchend, tastete er sich vorsichtig heran, versuchte verschiedene schauspielerische Möglichkeiten, um die Figur in den Griff zu bekommen. Im Laufe der Proben verpasste er seiner Rolle eine gewisse rüde, schlaksige Haltung und bedachte sie mit einer kraftstrotzenden Wortgewandtheit. Als er dann glaubte, auf dem rechten Weg zu sein, flogen die Worte nur so aus ihm heraus und ließen den Max zum Ruprecht werden. Aus dem Gentleman, der er eigentlich war, erwuchs ein liebenswürdiger, bauern¬schlauer Ruprecht. Leon beneidete ihn, erinnerte sich seiner eigenen schmalen Probenangebote und hoffte darauf, eines Tages die gleiche Perfektion zu erreichen. Leon wurde nicht müde, dem Spiel der Schauspieler und Schauspielerinnen zuzuschauen. Er genoss es, wie sie sich langsam an die Rollen herantasteten. Dabei lernte er fast das ganze Ensemble des Hauses kennen.
Die Probenhaltung von Beatrice als Eve berührte Leon in besonderer Weise. Bei aller Inanspruchnahme ihrer Mittel machte sie zwar einen zurückhaltenden Eindruck, schien aber mit ihren schauspielerischen Angeboten etwas zu kokettieren und darin wohlwollend zu baden. Leon glaubte die Absicht zu erkennen, dass sie mit ihren Worten nicht nur den Kleist’schen Inhalt mitzuteilen gedachte, sondern bestrebt war, ihre eigene Gefühlswelt damit zu äußern. Beatrice hatte das Probengeschehen im Griff und war ihren Partnern immer ein paar Schritte voraus. Für die Mitagierenden war das nicht zum Vorteil. Man hatte wenig Zeit, eigene Darstellungsabsichten einzubringen oder sich mit den Texten zu beschäftigen.
Zwischen den Schauspielern entflammte des Öfteren ein Gerangel, bei dem es nicht um den besagten zerbrochenen Krug ging, sondern um die besseren Plätze im szenischen Prozess. Alexander Brückner hatte große Mühe, alles in richtige Bahnen zu lenken.
Trotz aller Schwierigkeiten beneidete Leon Beatrice um ihre Souveränität. Vor lauter Zuneigung mochte er sogar ihre exzentrische Art und übersah die daraus entstehenden Komplikationen. Denn es geschah schon mal, dass sie im Eifer des Gefechts die Partnerbeziehung verlor und ohne auf Unzulänglichkeiten ihrer Kollegen Rücksicht zu nehmen, ihre Figur in ihrem Sinne vorantrieb, was zu heftigen Wortgefechten anregte. Beatrice begegnete dem mit lustigen, teils auch ironischen Bemerkungen und bestimmte nach wie vor das Bühnengeschehen. Leon konnte sich nicht zurückhalten, ihr hinter der Bühne seine Bewunderung entgegenzubringen. Sie war entzückt und ließ es ihn wissen. Mit einem züchtigen Kuss auf Leons vor Eifer gerötete Wange bedankte sie sich bei ihm und meinte, sie habe auch schon viel Spaß gehabt, ihn bei der Probe zu beobachten und hoffte auf eine größere gemeinsame Arbeit. Dieser Wunsch sollte sich bald für beide im Don Carlos erfüllen. Er in Gestalt des Carlos, sie als Prinzessin Eboli.
Leons offene, unbeschwerte Art brachte ihm schnell das Wohlwollen des Regisseurs wie auch des Ensembles ein. Alexander Brückner beobachtete Leon und war von seinem darstellerischen Einsatz und seiner Herangehensweise an die Rolle bald so überzeugt, dass er ihn mit der Titelrolle in Schillers Drama Don Carlos, der Infant von Spanien besetzte. Das tat er nicht ohne zu betonen, dass selbst Friedrich Schiller nach Leons Besetzung gedrängt hätte. Brückner sah in Leon einen Carlos, dessen sanfte Augen unter seinem wirren Haarschopf nach einem erfüllten Leben Ausschau hielten. Hinter aller Sanftmut verbargen sie Leidenschaft und Widerborstigkeit. Der leichte Silberblick gab seinen Gesichtszügen darüber hinaus etwas Sinnliches, etwas Unfertiges, eine gewisse Asymmetrie, die Aufmerksamkeit weckte. All seine Charakterzüge, sein gütiges Wesen, gemischt mit Leidenschaft, Gerechtigkeitssinn und Eigenständigkeit werden seine Theaterfigur zum Leuchten bringen, vorausgesetzt, dass er seine Arbeit gut machen wird.
Unter der Trauerweide
Der in der Luft hängende Duft des Spätsommers beruhigt Leon. Vorbei an alten Eichen, Buchen und Erlen führt sein Weg durch den Stadtpark hinunter zum Teich. In der Ferne leuchtet das Schloss mit der Orangerie, früher der Wohnsitz von Fürsten des Landes, heute für Ausstellungen hergerichtet. Unter einer Trauerweide kommt er zur Ruhe, streckt sich aus und beobachtet, wie die langen, tief hängenden Zweige über die spiegelglatte Fläche des Teiches wedeln. Ihre schmeichelnden Bewegungen vermischen sich mit der Musik, die Leon über die Kopfhörer seines Smartphones empfängt, die Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi. Die Weidenzweige bewegen sich scheinbar im Rhythmus der melodischen Klänge und lassen kleine Wellen über die Wasseroberfläche kräuseln. Mit der Musik fliegt sein Blick über den kleinen See, hinüber zur Wiese, hin zu den herbstfarbenen Baumgruppen. Ein belebendes Wohlgefühl überkommt ihn. Seine Gedanken, die vor der großen Herausforderung in Aufregung gerieten, gleiten hier in ruhigere Bahnen. Klassische Musik war Leon von Hause aus nicht gewohnt. Den Zugang zu ihr gewann er durch romantische Momente mit seiner Freundin Sarah. Er denkt oft an sie. Manchmal möchte er sie bei sich haben. Nach der Schauspielschule bekamen sie Engagements an verschiedenen Theatern. Bald darauf trennten sich ihre Wege.
Gerade bricht das Tongemälde des Gewitters im letzten Satz des Sommers über Leon herein und vereint sich mit dem Rauschen der vom Wind bewegten Bäume. Nach Leons Überzeugung ist sie die passende Musik für seinen Carlos, sie stimuliert ihn. Sarah dagegen würde eine andere Musik aus Carlos‘ Zeit bevorzugen und schon lägen sie im Meinungsstreit, ob Barock- oder Renaissancemusik, aber was soll's? Jetzt genießt Leon die Frische des übermütigen Einstiegs einer Sologeige im ersten Satz der Herbstkomposition. Die flirrenden Klänge vermischen sich mit dem ewigen Plätschern des in den Teich sprudelnden Flüsschens, schaffen in ihm eine emotionale Verbindung und lassen seine Fantasie lebendig werden. Heute empfindet er alles neu, ganz besonders und aufregend.
Auf der gegenüberliegenden Seite breitet sich eine bunte Landschaft aus. Am Ufer steht kurzes, messerscharfes Schilf. Er kann einige Seerosen und abgewelkte Wasserlilien erkennen. Im Frühjahr, wenn sie in leuchtend weißer und blauer Blüte stehen, erinnern sie ihn an das Seerosenbild des französischen Impressionisten Claude Monet. Sie sind wie der Gesang sich mischender Farbtöne, verbreiten gute Laune, schärfen den Blick, Natur und Menschen genauer zu betrachten. Sie machen Lust, mit Farben zu spielen, dabei eigene Emotionen freizusetzen. Für Leon sind sie anregend und inspirierend, selbst zum Pinsel zu greifen und wie Monet die Farben ineinanderzuverweben, sie zum Klingen zu bringen, eine Geschichte zu erzählen. Sein Großvater hatte ihm beigebracht, mit Farben umzugehen. Er lehrte ihn, mit den Augen eines Künstlers zu sehen, zu spüren, wie Malen hilft, ins seelische Gleichgewicht zu kommen. Das war für Leon nicht einfach. Sein Großvater verstand es, den Unebenheiten im Leben gelassen zu begegnen, was nicht heißen soll, dass er schon immer dazu in der Lage war. Er erklärte, dass ihn sein entbehrungsreiches Dasein geformt hat und weiter formen werde und dass dieser Weg auch Leon bevorstehen würde. Als Leon sich später entschloss, Künstler zu werden und zur Schauspielschule zu gehen, sagte sein Großvater zu ihm: „Weißt du, Leon, du als Mensch bist schon ein Kunstwerk. Das Leben haut an dir herum wie mit Hammer und Meißel. Es formt dich bis zum letzten Tag.“ Dabei hieb er von einem groben Stück Holz feine Späne ab, so als wollte er zeigen, wie es geht, das Leben zu formen. „Man muss nur das Zeug haben, ein Kunstwerk darin zu erkennen.“ Seine Augen tasteten Leons Gestalt ab, als wolle er sehen, ob sich darin ein Schauspieler verbarg, den es hervor zu meißeln galt und schmetterte mit jedem Schlag seines Meißels die Sätze aus sich heraus: „Du wolltest schon immer in einen anderen schlüpfen, dich hinter einer Figur verstecken; Lanzelot sein, der den Drachen besiegt; ein Held sein; es allen zeigen, was in dir steckt; deine Sehnsüchte zum Beruf machen.“
Leon muss jetzt darüber schmunzeln. Seine Schauspiellehrer hatten ganz andere Argumente, ihm den Weg zu weisen. Sie zeigten ihm, wie man das Leben genau beobachtet, es beschreibt, es nachgestaltet. Er lernte, seine Persönlichkeit in die Arbeit einzubringen, richtig zu sprechen, zu laufen, ganz neu zu denken. Sie lehrten ihn, mit Misserfolgen umzugehen. „Jeder Ton, jede Geste von dir hat seinen Platz in deinem Körper, du musst ihn nur finden.“ Leon suchte und suchte und lernte im Szenenstudium, sich zu behaupten, sich aus seiner Verschlossenheit herauszuwinden, zu öffnen, die Möglichkeiten seines Körpers, seines Geistes und seiner Seele so zu ergründen, dass er sie bei der Arbeit an der Rolle bestmöglich zu vereinen verstand. „Es gibt keine todsicheren Tipps“, sagten sie, „nur Übung und das Sammeln von Erfahrungen hilft. Mit jeder Aufgabe wirst du erwachsener. Was da auf dich zukommt, kannst du vorher nicht wissen. Du und deine Figur lernen sich erst bei der Arbeit kennen. Das gilt auch für später, wenn du schon viele Rollen gespielt hast. Die jeweils neue Arbeit zwingt dich, ganz andere Wege zu gehen. Dass dabei alles glattläuft und du eine schnelle Bestätigung bekommst, kannst du vergessen. Die Hauptsache ist, du hast sie vollendet und die Figur mit dir in Übereinstimmung gebracht.“ So sagten sie und Leon spürt, wie es in dem Buch unter seinem Arm sachte zu rumoren beginnt, wie sein Carlos Gestalt annehmen will. „Es dauert jedoch, bis deine Figur über dein Bewusstsein in dein Unterbewusstsein dringt und mit dir am Biertisch sitzt.“
Um die Studienarbeit an der Schauspielschule zu bereichern, nahmen sie bisweilen die Denksprüche des großen Theatermannes Max Reinhardt zu Hilfe. Reinhardt gehörte zu den bedeutendsten Theatermachern seiner Zeit. Er war auch Begründer der ersten Schauspielschule Deutschlands. Einige seiner Sprüche hatten sich im übertragenen Sinn in Leons Gedächtnis besonders eingegraben: Der wahre Schauspieler ist von der unbändigen Lust getrieben, sich unaufhörlich in andere Menschen zu verwandeln, um am Ende sich selbst zu entdecken … oder: Der Schauspieler ist ein Mensch, dem es gelungen ist, seine Kindheit in die Tasche zu stecken und damit auf Wanderschaft zu gehen … in Leons Taschen hatte sich schon einiges angesammelt. Doch die Schauspielschule füllte noch die Lücken, füllte sie mit Wissen und Erfahrungen. Ein alter, besonders erfahrener Schauspieler aus der Dozentenrunde, der mit seinen Kommentaren Leon im Stillen begeisterte, lehrte ihn: Was deine Arbeit als Schauspieler vorantreibt, ist nicht nur das richtige Gespür, das Gefühl, es ist das Wissen darum, dass es das richtige Gespür und das richtige Gefühl ist. Viele Fragen blieben trotzdem unbeantwortet, besonders solche, die die Praxis betrafen. In der Schule lernte er, das Leben zu gestalten, doch es sinnvoll zu leben, lernte er nicht. Sein Großvater würde ihm raten: „Nicht so viel reden, lieber machen. Es ist alles in dir drin, du musst nur richtig damit umgehen, dir deine Fähigkeiten bewusst machen.“
„Nein, nein“, nicht nur bewusst machen“, hört er im Geiste seinen alten Schauspiellehrer sagen: „Die Grundvoraussetzung, ein guter Schauspieler zu werden, ist das Talent, aber der Drang, der Hunger danach, es auszuleben, ist von gleicher Wichtigkeit. Das Talent ohne diese Gier ist nahezu wirkungslos.“ Und Leon wollte zeigen, dass er nicht nur Talent besaß, sondern auch den festen Willen hatte, es im Szenenstudium mit all seinen Fähigkeiten kraftvoll umzusetzen. „Ja, gut“, sagte der Lehrer dann wieder, „in deinen Rollen bist du der, der du gern sein möchtest, du musst aber der sein, der du wirklich bist.“ Leon verstand nicht. Er machte sich auf die Reise, um es herauszufinden. Mit seinem Carlos wird er den Weg, sich selbst zu entdecken, fortsetzen. Er wird Fähigkeiten und schauspielerische Mittel herausfinden, um so zu sein, wie er als Carlos ist.
„Ja, ja, mach nur immer“, äffte sein Großvater ihm nach, „im Bemühen, es allen recht zu machen, haben manche es verlernt, so zu sein, wie sie wirklich sind“, um dem ganzen Gerede ein Schlusswort zu verpassen, fügte er hinzu: „Das richtige Leben lernst du ohnehin erst in der Praxis, wenn du genügend Fehler gemacht hast, so wie du das Schauspielerhandwerk erst richtig auf der Bühne lernst, mit allen Erfolgen und Misserfolgen.“
Leon liebte die groben Sprüche seines Großvaters, auch wenn sie für ihn nicht immer überzeugend waren. Mit ihm bekamen die Dinge um ihn herum einen Namen. Sie nahmen Gestalt an. Die Linde vor seinem Haus, Steine in seiner Hand oder das Stück Holz, das er gerade beim Wickel hatte. Er beneidete ihn wegen seiner inneren Ruhe, seiner Ausgeglichenheit und wegen seiner Lebensklugheit. Aus ihm strahlte ein volles und reiches Leben. Leider strahlt er nur noch durch Leons Seele und wird ihn bei seinen Erfolgen und Misserfolgen begleiten. Schade. Der Großvater hätte seinen inneren Reichtum auch auf seinen Sohn, Leons Vater, übertragen sollen. Bei dem hatten Hammer und Meißel kein gutes Werk getan, da blieb alles im Verborgenen eingesperrt und abgeklemmt. Als Leon seinem Vater freudig verkündete, dass man ihn an der Schauspielschule angenommen hatte, war das für ihn wie ein Paukenschlag, sozusagen wie der aus der 94. Symphonie von Joseph Haydn. Der brachte ihn in eine völlige Schieflage. Er fauchte: „Na und? Was habe ich davon? Kostet nur wieder.“ Für diese Art der Beschäftigung seines Sohnes fehlte ihm jedes Verständnis. Seiner Vorstellung nach sollte Leon etwas Handfestes lernen. Er verschwand mit rollenden Augen, um seine Gefühlswucht woanders abzureagieren. Selbst der Großvater mit seiner Hammer-und-Meißel-Theorie konnte ihn nicht mehr in eine bessere Form bringen.
‚Wo nichts da ist, kann auch nichts Großes geschaffen werden‘, dachte Leon und ging seinen Weg ohne des Vaters Segen. Die Schauspielschule legte den Grundstein für den gewaltigen Umbruch in seinem Leben. Plötzlich stand alles Kopf und verlief auf ganz anderen Bahnen. Das Theater wurde sein neues Zuhause.
Recherchen
230 Jahre nach Schillers Don Carlos Aufführung sitzt Leon nun hier im Stadtpark wie damals Carlos in Aranjuez und steht vor der Herausforderung, ihm an diesem Theater zu neuem Leben zu verhelfen. Seine Recherchen mit seinem Smartphone brachten einige Neuigkeiten ans Licht.
Über vier Jahre lang hatte sich Schiller bemüht, diesen kaum zu zähmenden Sohn Philipps des II. und Enkel von Kaiser Karl dem V. in Szene zu setzen und mit seiner Geschichte die Zuschauer zu rühren, sie aber auch mit erschütternden Szenen in Schrecken zu versetzen. Aus den historischen Ereignissen um 1568 machte Schiller eine Tragödie für die Zuschauer des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die das höfische Leben mit all seinen Intrigen, Konflikten, politischen Ursachen und deren Auswirkungen darstellt. Bevor Schiller diesen Infanten Spaniens aus seinem Dornröschenschlaf erwachen ließ, war er nicht unbedingt der löwenkühne Jüngling, der sein Jahrhundert in die Schranken weisen sollte. Der historische Carlos galt als physisch und psychisch schwach. Mit dem Erbe der Weltmacht schien er gänzlich überfordert. Es anzutreten, war ihm nicht vergönnt. Er starb schon sehr früh, doch nicht eines heroischen Todes, sondern ganz unspektakulär an einer Influenza. Leon kann sich vorstellen, dass dieser Wesens-schwache, spät pubertierende Jüngling dem Schiller überhaupt nicht in den Kram passte. Also wich er von dem historischen ...